Pflege geschieht in den allermeisten Fällen nicht im Krankenhaus oder Heim – sondern zu Hause. Rund 80 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden laut Statistik von Angehörigen betreut. Auch in Österreich ist das Verhältnis ähnlich. Dennoch sind diese Menschen kaum sichtbar. Sie kämpfen im Stillen – mit Überlastung, Bürokratie, Einsamkeit und Schuldgefühlen.
Elisabeth Graml weiß genau, was Pflege bedeutet: Sie pflegt seit Kindheitstagen ihre neurologisch erkrankte Mutter – und hat aus diesen Erfahrungen ein wirkungsvolles Angebot entwickelt, das Angehörigen wieder Kraft gibt: die INSILA Akademie.
INSILA: Aus der Natur für den Menschen
Die Akademie liegt im bayerischen Tettenweis in der Nähe von Passau und bietet Schulungen für BetreuungsassistentInnen und Resilienztrainings für pflegende Angehörige an. Die Resilienztrainings für pflegende Angehörige sind dank Förderung durch die AOK Bayern und den Landkreis Passau kostenlos.
Das Besondere: Alles ist praxisnah, berührbar und konkret. „Die TeilnehmerInnen sind dankbar, dass sie nicht einfach nur zuhören müssen, sondern wirklich etwas tun können – mit allen Sinnen.“
Was sich esoterisch anhört, ist wissenschaftlich bewiesene Entspannung pur: In ihrem Buch „Die Superkraft der Pflanzen“ belegt Kathy Willis, Professorin für Biodiversität an der Universität von Oxford, den positiven Effekt des Waldbadens. Blicken SchülerInnen aus dem Fenster auf Bäume, sind sie wesentlich entspannter und stressresistenter als SchülerInnen, die lediglich auf Beton schauen. Selbst das Betrachten von Baumbildern und Fotos von grüner Natur senkt das Stressniveau. Das Hören von Naturgeräuschen führte bei VersuchspatientInnen zu einer Verbesserung ihrer Beschwerden von 184 % – etwa bei Schmerzen, Bluthochdruck und Depressionen. Aus diesem Grund wird in Japan das Waldbaden schon seit den 1990er-Jahren auf Rezept verschrieben.
Der Weg zur inneren Stärke
In den Gruppen zeigt sich, wie groß der Leidensdruck bei den pflegenden Angehörigen ist. Sie erleben eine Vielzahl an Belastungen: Die ständige Verantwortung, der hohe Zeitaufwand, der kaum Pausen zulässt. Viele berichten von Schlafmangel, Erschöpfung und körperlichen Beschwerden wie Rückenschmerzen oder chronischer Müdigkeit. Emotional zeigen sich die Belastungen oft in Gefühlen von Überforderung, Stress, Angst und Traurigkeit.
„Viele kommen mit gebückter Haltung, Tränen in den Augen. Und sie gehen mit einem Lächeln“, berichtet Graml. Die größte Erleichterung sei oft nicht die Methode – sondern das Verstandenwerden: „Die meisten erzählen mir, dass sie seit Monaten oder Jahren niemand gefragt hat, wie es ihnen selbst geht.“
Elisabeth Graml weiß aus eigener Erfahrung: Pflegende Angehörige verlieren sich häufig selbst in ihrer Rolle. Sie werden nicht mehr als EhepartnerIn, Tochter oder Sohn wahrgenommen – sondern nur noch als die Pflegende. „Viele bauen einen unglaublichen inneren Druck auf. Durch den Wunsch nach Perfektionismus, durch Schuldgefühle, und das Gefühl, nie genug zu sein“, beschreibt Graml. Hilfe anzunehmen fällt vielen Betroffenen schwer, weil es als Schwäche empfunden wird.
Wie kann die innere Stärke wieder erlangt werden?
Für Graml bedeutet Resilienz, einen Perspektivwechsel zu vollziehen: Die Pflegenden sollen wieder ins Agieren kommen, nicht nur reagieren. Nicht mehr gegen das Leben kämpfen, sondern mit ihm gehen. Graml: „Wenn ich meine Sichtweise auf die Situation ändere, ändert sich oft auch das Umfeld – oder zumindest meine Kraft, damit umzugehen.“ Und es geht auch darum, die Pflege für sich selbst nachhaltiger und erfüllender zu gestalten.
„Resilienz im Kontext der häuslichen Pflege bedeutet die Fähigkeit zu entwickeln, trotz der vielfältigen Belastungen und Herausforderungen psychisch und emotional stabil zu bleiben. Es geht darum, Ressourcen zu aktivieren, um Stress besser zu bewältigen, Rückschläge zu verkraften und auch in schwierigen Situationen einen positiven Blick zu bewahren,“ erklärt die Expertin. Denn nur wenn man selbst gesund, ausgeglichen und resilient bleibt, kann man die Pflege dauerhaft leisten. Vernachlässigt man die eigenen Bedürfnisse oder lässt die eigene Gesundheit außer Acht, steigt das Risiko für körperliche Beschwerden und psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Burnout.
Eine stille Krise mit lauten Folgen
Ein zentrales Problem in der Unterstützung der pflegenden Angehörigen: Fehlende Information, fehlende Sichtbarkeit der Angebote. „Was wir bräuchten, wäre ein einfacher, regionaler Pflege-Informationsflyer beim Hausarzt. Denn der Hausarzt ist meist die erste Anlaufstelle, und dort sollte eine Übersicht über Beratungsstellen, Helferkreise und Anlaufstellen liegen.“ Denn viele wissen schlicht nicht, dass es Unterstützung für sie gibt.
In der sich aufbauenden Pflegekrise fehlt es Gramls Meinung nach nicht an Studien, sondern an Umsetzung: „Schon vor Jahren wurde in Deutschland das Modell des ‚Pflegebegleiters‘ gesetzlich verankert. Das ist eine geschulte Person, die Angehörige mental unterstützt. Doch umgesetzt wurde es kaum“, sagt Graml. Ihre Vision: Ehemalige Pflegekräfte, die durch gezielte Fortbildung als echte BegleiterInnen in die Familien gehen. Ein System, das Entlastung schafft – und Leid verhindert.
Denn eines ist für Graml klar: „Die pflegenden Angehörigen von heute sind oft die Pflegebedürftigen von morgen.“ Viele verlassen die Pflegezeit ausgebrannt, krank, einsam. Was braucht es wirklich? „Verständnis. Zuhören. Räume, in denen die Menschen wieder atmen können. Und eine bessere finanzielle Unterstützung und flexible Betreuungsangebote, damit die Angehörigen entlastet werden“, sagt Elisabeth Graml, „Und ich wünsche mir von der Gesellschaft und der Politik mehr Anerkennung und Wertschätzung für die Arbeit der pflegenden Angehörigen. Pflege ist oft eine große emotionale und körperliche Herausforderung, die im Verborgenen stattfindet. Es wäre wichtig, dass ihre Leistungen öffentlich anerkannt werden und sie nicht nur als Helfer, sondern als wichtige Säulen unseres Gesundheitssystems gesehen werden.“
Ihre Botschaft an pflegende Angehörige ist klar: „Was andere sagen, zählt nicht. Nur, dass es Ihnen gut geht. Holen Sie sich Hilfe. Und geben Sie sich selbst nicht auf.“

Elisabeth Graml leitet die InSiLa Akademie („In Silva Lavari“): Sie bietet praxisnahe, naturgestützte Fortbildungen für Pflege- und Betreuungskräfte sowie pflegende Angehörige. Kern ist ein ganzheitliches Vier-Stufen-Konzept (betrachten – wahrnehmen – erinnern – erzählen), das körperliche und geistige Ressourcen – besonders bei SeniorInnen und Menschen mit Demenz – aktiviert.
Das Angebot umfasst Waldbaden (Shinrin Yoku), Qi Gong (auf Wunsch mobil in Einrichtungen), Resilienz- & Burnout-Prävention für Teams sowie Resilienztraining für pflegende Angehörige, um innere Stärke und Handlungskompetenz zu fördern. Mit „Demenzpartner“ vermittelt Elisabeth in Vorträgen und Aufklärungsangeboten Wissen, und Unterstützungsmöglichkeiten rund um Demenz. Alle Formate sind flexibel – von halbtägigen Workshops bis zu mehrtägigen Ausbildungen – und sofort umsetzbar. Mehr auf ihrer Website: www.insila-akademie.de
Persönliche Empfehlungen für Hilfsangebote unserer Interviewpartnerin:
- Eine Initiative, die ich besonders hervorheben möchte, ist „Du pflegst nicht allein“ von Monika Huber. Diese bietet pflegenden Angehörigen unter anderem eine wöchentliche Gesprächsrunde online an, um Austausch, Unterstützung und Mut zu fördern. Es ist eine wertvolle Plattform, um sich gegenseitig zu stärken.
- Ein weiteres Projekt ist CareWell, ein Forschungsprojekt der LMU München in Bad Birnbach, das ein stationäres Vorsorgeangebot für pflegende Angehörige entwickelt. Ziel ist es, ihre physische und psychische Gesundheit zu stärken und sie im Pflegealltag zu entlasten. Ich freue mich, im Entwicklungsteam mitwirken zu dürfen.
- Außerdem möchte ich den Verein wirpflegen e.V. erwähnen, der sich für die Belange pflegender Angehöriger engagiert und vielfältige Unterstützungsangebote bereitstellt.
- Nicht zuletzt ist Desideria eine bundesweite Anlaufstelle für Angehörige von Menschen mit Demenz, die Beratung und Unterstützung bieten.

Author: Anja Herberth
Chefredakteurin