Sophie Rosentreters Weg führte nicht geradlinig zur Pflege- und Demenzexpertin: Sie war Model und MTV-Moderatorin, lebte ein Leben auf der Bühne, in hohem Tempo. Und dann war da die innig geliebte Großmutter, die sich plötzlich seltsam benahm. Die Demenz-Diagnose trifft im Jahr 2000 eine Familie, die von den vorhandenen Angeboten kaum erfährt: „Bis zum Tod meiner Großmutter wusste ich nicht, dass es so etwas wie eine Alzheimer‑Gesellschaft gibt.“
Es ist eine ernüchternde Erkenntnis: Wenn Unterstützung Anfang der 2000er-Jahre existiert, so erreicht sie doch jene nicht, die sie so dringend brauchen. Aus Ohnmacht wird Neugier, aus Neugier Berufung. Heute weiß sie: Aufklärung, Wissen und Gemeinschaft bringen Leichtigkeit in die Pflege.
In einem sehr persönlichen Interview tauchen wir ein in die Welt von Sophie Rosentreter und ihrer Großmutter Ilse – und wie sie heute Lösungen in der Pflege im Umgang mit Demenz entwickelt und kommuniziert.
Wie eine Familiengeschichte zur Berufung wurde
Aktuell gibt es in Deutschland offiziell 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, über 70 Prozent werden zu Hause gepflegt. „Pflegende Angehörige sind der größte ambulante Pflegedienst, und von ihnen nehmen gerade mal ein Drittel Hilfe an. Das ist verschwindend gering“, so Rosentreter. Im Gegensatz zur Zeit, als Rosentreters Familie pflegte, gibt es Hilfe und Unterstützung online und offline – und heute ist sie ein Teil dieser Lösung.
Sie startet im Jahr 2010 das Unternehmen „Ilses weite Welt“ und produziert Filme für an Demenz Erkrankte, die an der Gefühlswelt der Menschen andocken – an Erinnerungen, an Gesten, an Musik. Über die Idee dazu sagt sie heute: „Ich habe im Heim meiner Großmutter gesehen, dass das TV-Programm und Menschen mit Demenz nicht miteinander funktionieren. Auf der einen Seite eine ganz schnelle, kognitive Welt – und auf der anderen Seite eine ganz langsame, gefühlvolle Welt. Auch Werbung und Nachrichten lösen Dinge in demenzerkrankten Menschen aus. Das wollten wir nicht.“
Es bleibt nicht bei Filmproduktionen, denn sie sah: „Bevor Angehörige und professionell Pflegende verstehen, dass sie einen Film als Brücke nutzen können, um wieder ins Gespräch zu kommen, braucht es noch viel Aufklärung.“ Deshalb vertiefte sie sich Kommunikations- und Aktivierungsmethoden, die es zu Demenz gibt – beispielsweise Validation, Ergotherapie, basale Stimulation, Musiktherapie. Rosentreter: „Und auf einmal wurde diese düstere Welt ganz bunt und voller Möglichkeiten.“ Sie erkannte, dass es viele Möglichkeiten gibt, „um Beziehungen zu gestalten, um Erinnerungen zu wecken und um das Selbstwertgefühl auch bei Menschen mit Demenz zu stärken.“
Bald schreibt sie ein Buch, gibt Schulungen in Pflegeheimen, spricht in großen Hallen und dreht Aufklärungsfilme mit Partnern wie der AOK und anderen Partnern.
„Hilfe in Anspruch nehmen ist ein Zeichen von Stärke“
Sophie Rosentreter hat noch viel vor – denn es gibt ein weiteres persönliches Anliegen: Dass pflegende Angehörige nicht selbst zum Pflegefall werden und ausbrennen. Denn kurz nach dem Tod ihrer Großmutter ist auch ihre Mutter verstorben: „Ich bin mir sicher, dass sie an dieser Überforderung und emotionalen Belastung der Pflege meiner Großmutter zugrunde gegangen ist.“ Sie selbst erkrankte an Hautkrebs, musste die Lymphknoten entfernen lassen. „Seelischer Schmerz macht eindeutig krank“, ist sie sich sicher. Daher spricht sie heute darüber und hilft anderen, sich die Unterstützung zu holen, die sich brauchen.
Was sie heute in einer Pflegesituation anders machen würde? „Aufklärung, Wissen, Unterstützung, Gemeinschaft – das bringt Leichtigkeit. Ein imaginärer Koffer voller Wissen und Unterstützung an der Seite bringt Leichtigkeit, und damit schaffen wir es auch, diesem schweren Thema schöne Momente abzugewinnen.“ Unsere Gesellschaft sieht sie als „total verkopft“, die immer nur höher, schneller und weiter will. Ein Mensch, der erkrankt, dessen Geist und Verstand zurückgeht, hat es schwer in dieser Gesellschaft. Aber: „Das Herz wird nicht dement“, so Rosentreter, und genau das bleibt, wenn alles andere zu schwinden droht: Das Gefühl, die Seele.
Was es an Tools und Konzepten zur Unterstützung gibt
Heute gibt es bereits eine Menge Tools und Konzepte, die das Leben einfacher gestalten. Neben smarten Lösungen wie intelligenten Fußleisten und Apps unterstützen auch einfache Anpassungen für zu Hause. Einen Überblick darüber geben Musterwohnungen, die online und offline zu besichtigen sind.
Denn mit Demenz verändert sich beispielsweise die Farbwahrnehmung und damit die Orientierung. Ein weißer Teller auf einem weißen Tischtuch und ein durchsichtiges Wasserglas sind für an Demenz Erkrankte schlicht nicht sichtbar. Ein farbiger Teller auf weißer Tischdecke macht Essen sichtbar; ein Schuss Saft lässt das Getränk im Glas „auftauchen“. Die Schränke brauchen klare Hinweise: Am besten Piktogramme, die auch dann noch orientieren, wenn die Begriffe nicht mehr verstanden werden.
Schatten und Schwellen ängstigen: Türen lassen sich mit Vorhängen unauffällig verstecken und entdramatisieren. Eine gute bodennahe Ausleuchtung durch beispielsweise Steckdosenlichter ist wichtig. Rutschfeste, fixierte Teppiche sorgen für Sicherheit, eine Klingel- oder Druckmatte meldet nächtliches Aufstehen.
Zusätzlich zu diesen Tipps für zu Hause gibt es viele Freizeit- und Entlastungs-Angebote: „Hier in Hamburg gibt es einen Hundebesuchsdienst für Menschen mit Demenz in der Häuslichkeit. Ich bekomme einen Hund nach Hause und kann mit ihm sogar spazieren gehen. Und mein Angehöriger kann einkaufen gehen oder einfach nur eine Tasse Tee trinken – oder nichts machen.“ Tanznachmittage, Museums- und Kunstangebote, sogar inklusive Discos gibt es für an Demenz Erkrankte bereits: „Es gibt so viel am Markt, man muss sich umsehen und die Bausteine ausprobieren um zu sehen: Was passt zu mir?“
Pflege: „Es gibt so viel, auf der anderen Seite aber auch so wenig“
Angesichts der Vielfalt an Angebot könnte man denken, es gäbe keinen Pflegenotstand – aber er ist da: „Eine Freundin sucht in Hamburg für ihren Vater aktuell einen Heimplatz. Sie kam auf der Warteliste auf Platz 620. Im Umkreis von 100 Kilometern gibt es keinen Kurzzeitpflege-Platz. Und das ist erst der Anfang. Wir reden zwar seit 10, 20 Jahren darüber, aber die Masse – die Babyboomer – kommt ja noch. Und da müssen wir als Gesellschaft wieder in eine Gemeinschaft kommen, wir müssen uns selbst engagieren. Die Konzepte der Nachbarschaftshilfe und der Quartiersentwicklung gibt es ja, wir müssen aber auch hinsehen und mit unterstützen.“
Denn eines ist klar: Die Pflege ist unter Druck und kommt mit der steigenden Nachfrage in keinster Weise zurecht. Die Pflege findet verstärkt zu Hause durch pflegende Angehörige statt, wodurch deren finanzielle und organisatorische Belastung steigen. Gleichzeitig hinkt der Ausbau im sehr fragmentierten ambulanten Pflegesystem dem Bedarf am Markt nach und ist (in Deutschland und Österreich) je nach Bundesland sehr unterschiedlich entwickelt. Es gibt nicht ein durchdachtes System, sondern nur kleine, regionale Lösungen. „Die Pflegekassen stehen kurz vor der Insolvenz, die Pflege zu Hause muss attraktiver gestaltet werden. Das System funktioniert so nicht, da muss es einen großen neuen Wurf geben.“, so Rosentreter, denn: „Armut durch Pflege ist auch bei uns gegeben.“
Das Thema Armut ist vielfältig: Denn oft ist nach einer Pflege der Wiedereintritt in den Job nicht möglich, die Folge ist soziale Isolation und das Enden als Pflegefall von morgen. „In der Diskussion geht es immer nur um die Profis, die sich mittlerweile sichtbar machen. Das finde ich super, aber das ist ja nur ein kleiner Teil. Auch die Pflege zu Hause muss anerkannt und gewürdigt werden“, erklärt Rosentreter.
Wir bedanken uns für das Interview – und es hallt noch lange dieser Satz nach, der vieles zusammenfasst und doch nie fertig erklärt: „Das Herz wird nicht dement.“
Erfahren Sie mehr zu den Produkten in „Ilses weiter Welt“ unter https://ilsesweitewelt.de
Die Filme sind als DVD und als Stream in der Mediathek erhältlich.
Mehr zu Sophie Rosentreter und zu Ihrer Buchung als Vortragende erfahren Sie hier: https://www.sophierosentreter.de
Author: Anja Herberth
Chefredakteurin











